Biographie und Fußball: The unconscious pattern which connects

Gerade läuft die Fußball WM und Milliarden Menschen sind in den Bann dieses Ereignisses gezogen. Wodurch wird dieses weltumspanndende Interesse am Fußball erzeugt?

Die französische Schriftstellerin Dominque Aubier hat ein interessantes Konzept über Lebensphasen entwickelt, das im Rahmen der [MATRIX] weite Verwendung findet und zugleich einen erklärungsstiftenden Blick auf das Interesse am Fußball ermöglicht. Die These ist, jedes Fußballspiel bildet die Gestaltungsprinzipien einer Biographie kondensiert in einem 90 Minutenformat ab.

Erklärung der Terminologie

Aubier bezeichnet die jeweils erste, zweite und dritte Lebensphase eines lebendigen Systems mit den Kunstbegriffen Bip - Stop und BOP. Diese Terminologie kann sowohl auf die Lebenshälften eines Individuums sowie auf soziologische und organisationale Systeme, zyklische Naturabläufe oder planetare und kosmische Systeme angewandt werden. Sowohl ein Jahr (Trimester) als auch ein Seminar, eine (Urlaubs-)Reise und auch ein Fußballspiel gehorchen diesen Phasenprinzipien.

Anwendung des Modells in der Biographie

Bezogen auf eine 35 Jahre alte Person könnte man sagen, sie befindet sich am Anfang ihres zweiten Lebensdrittels, also am Bip vom Stop. Ein dreitägiges Seminar lässt sich ähnlich einteilen. Unabhängig davon, um welches System, in welchem Kontext es sich handelt, haben Systeme, die sich im Bip - Stop oder im BOP befinden, bestimmte überindividuelle Eigenschaften und Verhaltensweisen, die von der jeweiligen Lebensphase des Systems abhängig sind.

Im Stop, in der Midlifecrisis oder der Rushhour of Life, wird Bilanz gezogen oder es werden die w(r)ichtigen Entscheidungen getroffen: Wie ist es bisher gelaufen und wie soll das letzte Drittel gestaltet werden? Das Empfinden des völlig offenen Zeithorizonts, dass alles (noch) möglich ist, wandelt sich zum Bewusstsein des heraufdämmernden Lebensendes und das subjektive Zeitempfinden wandelt sich ebenfalls (Die Chronobiologie gibt darüber Auskunft.). Das Leben wandelt sich vom Bezugspunkt Geburt und der "unendlichen" Zeit, die noch vor einem zu liegen scheint, auf den Bezugspunkt Tod und der täglich kürzer werdenden Zeit, die einem noch bleibt. Das wird zerebral gesteuert, Dominique Aubier hat es in ihren Schriften genau beschrieben. Die hintergründigen, aber entscheidenden Steuerungsmuster der Biographiephasen sind durch eine unterirdische Architektur aufeinander bezogen.

Anwendung des Modells im Fußball

Genau so wie Madame Aubier die Lebensphasen beschreibt, ist ein Fußballspiel zeitlich strukturiert und bezieht daher daraus einen großen Teil seiner Spannung (wie das Leben auch). Die erste Spielhälfte ist der Bip, die Pause der Stop und die zweite Spielhälfte der BOP.

Mit dem einzigen Unterschied, dass ein Fußballspiel eine geschlossene Bip – Stop – BOP Figur dastellt, da seine Zeitdauer, sein Anfang und Ende bis auf die Nachspielzeit (und mögliche Verlängerung) von vornherein bestimmt sind.

Ein Fußballspiel hat bekanntlich 90 Minuten, man könnte also die Spielzeit fast der statistischen Lebenserwartung gleich-setzen. Eine Spielminute würde dabei metaphorisch etwa einem Menschenlebensjahr entsprechen. Diese analoge Strukturisomorphie zwischen der Zeitdauer eines Fußballspiels und eines Menschenlebens ist eine unbewusste Quelle des weltweiten Fußballtaumels.

Denn jeder weiß, dass ein Ergebnisstand in Abhängigkeit von der Spielminute eine völlig andere Bedeutung hat und jeweils völlig andere Strategien erfordert, wie im Leben auch.

Zum Beispiel in der Pause (im Stop) interveniert der Trainer in Abhängigkeit vom Spielstand und seinen reflexiven Analysen des Spiels bei der Mannschaft, ändert die Strategie und/oder nimmt Auswechslungen vor.

Diesen Pausen-Luxus gibt’s im Leben leider nicht. Das Leben läuft auch im Stop zwischen 35 und 45 einfach weiter und manch Einer verschläft da wichtige Reflexionen und Änderungen und reibt sich dann Mitte 50 erstaunt die Augen.

Liegt eine Mannschaft in der 80-sten Minute mit einem oder sogar zwei Toren zurück und versucht dann noch den Ausgleich, rast die Zeit dahin. Umgekehrt führt eine Mannschaft (knapp) und spielt auf Zeit, scheint sich die Zeit unendlich zu dehnen, in letzter Minute kann noch der Ausgleich passieren und dann geht das Spiel in die Verlängerung.

Im Leben kann auch jederzeit ein unerwartetes Ereignis geschehen und den bisherigen Spielstand über den Haufen werfen, aber die Wahrscheinlichkeit einer zweimal fünfzehnjährigen Verlängerung ist nach der 90-ten „Minute“ eher selten. Da macht vorerst nur Johannes Heesters eine Ausnahme. Der soll zwar kein Fußball mehr spielen, singt vermutlich aber die Tage doch noch einen Fußball-Hit.

Der deutschen Mannschaft wünschen wir, den Bip des Turniers gut zu überstehen, im Stop die richtigen Bilanzen zu ziehen und dann im BOP die Krönung zu erlangen. Wenn es nicht gelingt, jogischerweise nur deshalb, weil Trainer und Mannschaft dieses Modell noch nicht kennen. Und wenn doch, dann nur deshalb, weil jemand der Truppe dieses Modell gefeatured hat (Zwinker, lach).

 Juni 2010