Repolitisierung von Therapie und Beratung?
Aus meinen politökonomischen Studien von 2012 bis heute ergab sich die dringende Frage nach einer Repolitisierung von Therapie und Beratung. Die Einflussmöglichkeiten auf das Individuum haben mit den heutigen Mitteln einen Ceiling-Effekt erreicht. Das systemische Therapie- und Beratungsfeld kann man nicht nur (wie fast alle anderen Therapieschulen und Beratungsfelder) als entpolitisierte Felder bezeichnen, sondern die explizite Zusammenschau von politischen Sachverhalten mit psychischen Beschwerden kann einem schnell mal mit einem „systemisch überlegenen“ Duktus als (unprofessionelle) Kontextvermischung retourniert werden.
Ursprünglich waren im systemischen Bereich „Kontext“ und „Meta-Komunikation“ zentrale Schlüsselbegriffe mit starker politischer Basierung. Diese Begriffe wurden ihres emanzipatorischen und politischen Gehalts entkernt und zu einer subjektivistischen, funktionalistischen und individuumsbezogenen oder bestenfalls im Beziehungsnahfeld gültige Begrifflichkeiten ohne Macht- und Herrschaftsanalyse umgedeutet. Das wurde u.a. mit einem z. T. wilden und wirren Mix aus Luhmannschem Funktionalismus und radikalem Konstruktivismus begründet.Die zentralen Fragen von Kontextanalysen und Meta-Kommunikationsreflexionen „fahndeten“ nach den Machtverhältnissen in der Außenwelt. Man konnte von einer Pragmatik der Lasswell-Formel (die im Systemischen nie richtig zur Kenntnis genommen wurde) sprechen und danach fragen: Wer macht was mit wem, zu welchen Zwecken, wer profitiert davon und wer nicht, wer hat diese Regeln installiert, wer kann und darf sie ändern und wer eben nicht? Mit dem zunehmenden Umsichgreifen des Seven-Sisters-Konglomerats (Neoliberalismus, Postdemokratie, Governance, Mediokratie, Privatisierung, Lobbyismus, Big Data) wurde eine explizite Exploration dieser Fagen zunehmend schwieriger. In einem Zeitalter, das zunehmend von diesem multituden Komplex durchdrungen ist, sind große und kleine Machthaber und ‘Kaderfurzer‘ nicht mehr bereit, sich machtpolitisch hinterfragen zu lassen.
Entpolitisierte Lehrbücher
Schaut man heute bspw. in das systemische Lehrbuch von Schlippe und Schweizer, merkt man bald, dass von der ursprünglichen politischen Färbung der zentralen Schlüsselbegriffe nichts mehr übrig geblieben ist und keine einzige politische oder gesellschaftskritische Referenz gemacht wird. In diesem zweibändigen Kompendium wird zudem keine einzige der bekannten kritischen und warnenden Veröffentlichungen und Auseinandersetzungen mit systemischer Therapie und Beratung genannt (weder Gabel, Körner, Meister, Schülein, zur Lippe usw.). In anderen systemischen Lehrbüchern sieht es nicht anders aus.
Entpolitisierte Verlage
Im Carl-Auer Verlag (den ich ja leider mal mitgegründet habe, wie ich heute zu meiner Schande gestehen muss) gibt es kein einziges Buch (vielleicht mit Ausnahme von Conen’s „Ungehorsam“), in dem auch nur der Hauch einer politischen Perspektive von Therapie und Beratung vor dem Hintergrund einer (kritischen) Gesellschaftsanalyse adressiert wird, von entsprechend emanzipatorischen oder politisch basierten oder politisch gestützten Theorien ganz zu schweigen. In anderen therapeutischen und beraterischen Fach-Verlagen ist es nicht besser um die Fachbuchsortimente bestellt.
Entpolitisierte Berufsverbände
Die systemischen Berufsverbänden haben sich bisher einer politischen Analyse der verschärften Bedrohungen und Angriffe auf die Arbeits- und Lebenswelten ihrer Mitglieder und deren Klientel nicht nur entzogen, sondern sie spielen die üblichen politischen Seven-Sisters-Spiele. Sie haben bisher erfolgreiche Tabuzonen gegenüber politischen Analysen, politischen Diskussionen und einem außenweltbasierten Blick auf die politischen Ursachen der Gesllschaftsveränderungen der letzten Jahre blockiert.
Der rasante Aufstieg des radikalen Konstruktivismus und des Luhmannschen Funktionalismus im Berufsfeldsystemischer Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung kann nur dadurch erklärt werden, dass diese Theorien zu Rechtfertigungsphilosophien eines innenweltgerichteten Subjektivismus und politischen Quietismus avanciert sind, der fest in einer neoliberalen und postdemokratischen Ideologie fußt, die mit dem schüsslich, klebrigen Convenianceschleim von Governancesauçen garniert ist.
In der Tiefenstruktur haben sich die systemischen Verbände in sich eine mehrfach abgeschottete Klassengesellschaft geschaffen, die (unter dem Label der Fach- und Qualitätskontrolle) mit den (scheinbar) sanften, freundlichen, positiv konnotierenden (usw.) Mitteln einer Psychopolitik diese Privilegien durch ihre Funktionseliten verteidigt, die davon in erster Linie zunächst mal selber profitieren.
Insbesondere auf dem Ohr der verbandsinternen Demokratisierung und der verbandsinternen Machtteilung sind die Funktionseliten der Verbände bisher nicht zugänglich.
Zu der zuvor kurz skizzierten Psychopolitik gehört auch eine entpolitisierte Theorie sowie eine konfliktscheue, diskussions- und streitphobische Kommunikationskultur, die zur quietistischen Versiegelung dieser Machtverhältnisse beiträgt.
Es gibt andere emanzipative und politische Modelle
Dabei gibt es doch ganz andere soziologische, ökonomische, emanzipative und sogar explizit politische Metamodelle von Bourdieu über die Frankfurter Schule bis zu Wallerstein oder der deliberativen Demokratie nach Habermas u.v.a.m.. Aber das wurde in dem systemischen Berufsfeld nie ernsthaft diskutiert.
Psychopolitik
Byung-Chul Han (2015) beschreibt diese alltägliche Psychopolitik, die sich alle menschlichen Beziehungsaspekte zu käuflichen Waren(fetischen) umbiegt, u.a. so:
„Das neoliberale Leistungssubjekt als »Unternehmer seiner selbst« beutet sich freiwillig und leidenschaftlich aus. Das Selbst als Kunstwerk ist ein schöner, trügerischer Schein, den das neoliberale Regime aufrechterhält, um es gänzlich auszubeuten. Die Machttechnik des neoliberalen Regimes nimmt eine subtile Form an. Es bemächtigt sich nicht direkt des Individuums. Vielmehr sorgt es dafür, dass das Individuum von sich aus auf sich selbst so einwirkt, dass es den Herrschaftszusammenhang in sich abbildet, wobei es ihn als Freiheit interpretiert. Selbstoptimierung und Unterwerfung, Freiheit und Ausbeutung fallen hier in eins.
Die neoliberale Psychopolitik ist dagegen von der Positivität beherrscht. Statt mit negativen Androhungen arbeitet sie mit positiven Anreizen. Sie setzt keine »bittere Medizin«, sondern Like ein. Sie schmeichelt der Seele, statt sie schockartig zu erschüttern und zu paralysieren. Sie verführt die Seele, sie kommt ihr zuvor, statt gegen sie zu opponieren.“
Ein Sudelbuch des systemischen Neoliberalismus
und einer neoliberalen Beziehungsausdeutung bzw. -ausbeutung war die „Radikale Marktwirtschaft. Verhalten als Ware oder Wer handelt, der handelt“. Ein neoliberales Sudel(koch)buch, das schon 1998 im Leib- und Magen(verstimmungs)verlag der systemischen Egotaktiker und Entweder-Oder Akrobaten von Carl Auer erschienen ist, schwamm schon damals auf der neoliberalen Beziehung als Ware Welle. Humanistische oder gar emanzipatorische Sichtweisen der damaligen Zeit, wie sie heute bspw. von Michael Sandel vertreten werden, wurden erst gar nicht zur Kenntnis genommen.
Kommunikative Stilblüten eines Jargons der Uneigentlichkeit
Im systemischen Bereich treiben diese psychopolitischen Herrschaftsattitüden nicht nur besonders ausgeprägte (Stil-)Blüten (positive Konnotation, Ressourcenorietierung, Problemlösungen, Neutralität, passive Beobachter also Zuschauer- und Gaffer-Konzepte anstelle von aktiven Akteur- oder politischen Standpunkt- oder Verortungs-Konzepten oder politischen Kampf-Positionen usw.), sondern hier wurde diese (Sumpf-)Blüten auch noch ex cathedra als die einzig erlaubte kommunikative Benutzeroberfläche eines stilgerechten und political correctnesshaften Fachkommunikationjargon geadelt. Sozusagen ein Jargon der Eigentlichkeit, der zusätzlich mit etwas Respektlosigkeitssoße garniert wurde; aber natürlich immer nur als Respektlosigkeit gegenüber Themen und Sachen und nie gegenüber Personen, die diesen Bullshit propagierten. Gianfranco Cecchin, der das Neutralitätskonzept ursprünglich in den systemischen Bereich einführte, würde ob solcher Schlichtheiten hochfrequent im Grabe rotieren, wenn er sich das noch zu seinen Lebzeiten hätte anhören müssen.
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