Ernst von Glasersfeld - ein Nachruf

Skifahren auf bunten Wiesen in den blauen Bergen der Vogesen

Die ästhetische Erziehung des Menschen

Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ ist eine der bedeutendsten pädagogisch programmatischen Schriften deutscher Zunge. Ein Klassiker, dessen Einfluss auf die pädagogische Alltagspraxis in Deutschland leider gering blieb. Man kann sie als Friedrich Schillers Rache an seiner Erziehung verstehen, die ihn zunächst bis 15 zum Bettnässer gemacht hatte und dann den ungeliebten Beruf als Arzt bescherte und den Grundstein zu seinem frühen Tod legte. Erst 1780 mit 21 nach der Dissertation konnte er seinen eigentlichen schriftstellerischen Talenten folgen. Das mag früh erscheinen, es war aber schon die Hälfte seines Lebens. Schiller war wegen seiner Räuber unter das Verdikt des herzoglichen Räubers gefallen, Gefängnis und Flucht waren die Folge.

In diesen 27 Briefen diskutiert Schiller 1795 die Zentralfragen der Pädagogik: Notwendigkeit und Freiheit, Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und Erkenntnisvermögen, Willkür und Gesetz, kurzum wie erzieht man einen Menschen, der sich jeglicher Barbarei verweigert.

So ein Mensch war Ernst von Glasersfeld. Ernst hatte (große) Klasse in jeder Beziehung und das auf vielen Feldern. Er verkörperte für mich zugleich intellektuelle Gewandtheit, ethische Freiheit, moralische Festigkeit mit der humanisierenden Wucht des konkreten täglichen Handelns. Ernst wurde 1917 in München geboren, er war die Generation meines Vaters, er starb am 12. November 2010.

Skilehrer unter sich, eine pädagogische Fachsimpelei

Wir fanden früh voneinander heraus, dass Skifahren unsere große sportliche Leidenschaft war. Wir hatten beide sehr früh im vorschulischen Alter durch mütterliche Förderung mit dem Skifahren angefangen (und hatten beide teils unerfreuliche Erinnerungen an die Internatszeit). Beide fuhren wir im Oberengadin Ski, Ernst in Zuoz, ich in Pontresina und Sankt Moritz. Dadurch fuhren wir beide schon relativ früh ganz erfolgreich Skirennen. Beide hatten wir eine lebensphaselang als Skilehrer gearbeitet, das hatte uns jeweils finanziert und durch`s Leben getragen. Das war die Basis unseres tiefen Einverständnisses. Unser Interesse an einer emanzipatorischen  Pädagogik, die an Schillers ästhetische Erziehung anknüpfte, ging jeweils auf unsere Zeit als Skilehrer zurück. Wir beiden verstanden Skifahren als Chance zu einer umfassenden emanzipatorischen Pädagogik in einer grandiosen Natur. Apres-Ski und andere Skilehrermythen standen dabei weniger im Fokus. Mir war bald klar, dass Skifahren für Ernst die Quelle seiner Viabilitätsideen sein musste.

Ernst hatte zunächst in Zürich an der Uni Mathe studiert und war zuvor an der ETH abgewiesen worden. Ich studierte in den 70er Jahren zunächst in Zürich an der Uni Psychologie und hatte an der ETH einen Nebenjob und eine Dienstwohnung als Skilehrer (die ich mit einem polnischen Edelkommunisten und Professor für Feinmechanik teilte, eine Folie à Deux).

Der entscheidende Unterschied unserer Skifahrerei wurde mir erst im Gespräch mit Ernst klar, es war der skihistorische Kontext. Ernst war nach 1936 als Skilehrer in Australien unterwegs und ich in den 70-er Jahren in den DACH Ländern.

Ernst war also in der prätouristischen und -industriellen Epoche des Skisports als Skilehrer tätig, ich war im ersten Boom des Skitourismus zugange. Zu Ernst Zeiten gab es noch keine Pisten (von Pistenwalzen und Schneekanonen ganz zu schweigen) und fast noch keine mechanischen Aufstiegshilfen, wie Zahnrad- und Bergbahnen, Kabinen-, Sessel- und Schlepplifte. Die „Götter“ hatten vor die Freude der Abfahrt noch den Schweiß des Aufstiegs gesetzt. Eine Minute Abfahren, zehn bis zwanzig Minuten aufsteigen.

1994 besuchte mich Ernst in den Vogesen in Anschluss an das Forum „Management und Konstruktivismus“. Er war 77 und in körperlicher Topform, ich war 42 mit recht übersichtlicher Fitness. Bald waren wir auf einem schneelosen Hang hinter meinem Institut (das damals noch in den Sternen stand) und diskutierten über Skipädagogik und simulierten auf dem Trockenen Skiübungsreihen. Das anschließende Abendgespräch, das sich bis tief in die Nacht zog, war ein Parforceritt durch die Entwicklung der Koevolution von Skitechnik und Skipädagogik. Vom Telemarken (Ernst war ein großer Meister dieser Disziplin) über die Schriften zur alpinen Skitechnik von Mathias Zdarsky, über die Entwicklung vom Stemm- zum Parallelschwung durch Anton Seelos, einer Bewertung des Inner Skiing von Timothy Gallwey und dem Tao des Skilaufs von Balmain. Dann diskutierten wir anhand der Quellen, die ich flugs aus meiner Bibliothek herbei holen konnte, die Imaginationsalternativen beim schnellenden Umsteigen in der Buckelpiste in Abhängigkeit von Hangneigung, Schneebeschaffenheit, Sichtverhältnissen, skitechnischem Vermögen, Kondition und Ausrüstung. Wir spotteten über die „biomechanische Verkrampftheit“ des DSV Skilehrplans und landeten schließlich bei der Viabilität.

Viabilität

Ernst erzählte mir folgende Metapher zur Viabilität: Ein Skifahrer zieht frühmorgens noch in der Dunkelheit los und geht dann stundenlang mit Steigfellen unter den Skiern in großen Zickzacklinien in der gleißenden Sonne und dem glitzernden Schneekristallen dem Gipfel entgegen, dabei teilt er sich klug die Kräfte ein. Ab und zu hält er inne, orientiert sich und korrigiert seine Route. Nach vielen Stunden des Aufstiegs kommt er schweißgebadet am Nachmittag oben auf dem Gipfel an. Er trägt sich ins Gipfelbuch ein, genießt die weite Aussicht, macht eine kleine Rast und stärkt sich mit einem kleinen Imbiss aus seinem Rucksack. Dann schnallt er die Steigfelle ab, bindet sie um den Leib, wachst die Ski und fährt ein halbes Stündchen ab ins Tal. Erst mit Einbruch der Dunkelheit kommt er müde und glücklich in seiner Unterkunft an.

Nur wer diese Art von Touren selber gemacht hat, weiß wovon Ernst erzählte und sieht die Parallelen zum Leben.

Auf meine Bemerkung, dass sich diese luzide Metapher in ihrer sonnendurchfluteten Übersicht doch erheblich und positiv von den mir bisher bekannten im dunklen Wald und Meerenge Metaphern über Viabiltität unterscheidet, meinte Ernst trocken, es war mittlerweile weit nach Mitternacht: Auch ich musste erst manche herbe Erfahrung machen und viele steile Wege gehen, bis ich zu einem gewissen Überblick in innere und äußere Welten gelangte. Den musikalischen Hintergrund steuerten u.a. die Beatles mit: „The Long and Winding Road“bei. Es gibt seltsame Koinzidenzen.

Durch diese Gespräche zur Skipädagogik wurde mir bald klar, dass Ernst jedes Thema mit dem er sich befasst hatte in einer ganzheitlichen Breite und Tiefe erfasst hatte, die selten ist. Viele Jahre hatte ich Kontakt mit den Instruktoren des Demonstrationsteams der deutschen Berufsskilehrer. Phantastische Skifahrer gewiss, sicher weit perfekter und eleganter als Ernst und ich zu unseren besten Zeiten und auch ganz passable Pädagogen, aber keiner von ihnen hatte die Tiefenstruktur des Skifahrens auch nur annähernd so durchdrungen wie Ernst.

Heliskiing gab es auch 1993 schon, nur nicht in der durchgeknallten Quantität, wie heute in der Schweiz. In den meisten anderen europäischen Ländern ist es Gott sei Dank verboten. Ernst - kein Freund von Zwang und Verboten - hätte sich heute für mountain wilderness und das Verbot des Heliskiing eingesetzt.

Pädagogische Verbindlichkeiten

2005 anlässlich der Verleihung des Bateson Preises hatten wir unsere letzte persönliche Begegnung. Dann hatten wir leider nur noch Mailkontakt, bei dem wir unsere pädagogischen Diskussionen fortsetzten und erweiterten. Ich hatte Ernst den ersten Band der Biographie von Hartmut von Hentig zugesandt, immerhin einer der bedeutendsten und leider auch einflusslosesten Reformpädagogen in Deutschland, Ernst war mit seinen Schriften nicht vertraut. Er schrieb mir dazu:

Lieber Peter,

Ich habe mich endlich bis zum Ende der Hentig-Memoiren durchgelesen. Eine nicht gerade amüsante Lektüre, denn  der Autor nimmt sich und sein Deutschtum sehr ernst. Mich hat das Buch gefesselt, denn es dokumentiert eine der Weisen, in der Deutsche etwa meines Alters mit der Vergangenheit fertig werden. HvH hat offensichtlich darunter gelitten, dass sein Vater offenbar kein Nazi war aber dennoch mitspielte. Sein Onkel, der 1935 auswanderte, hat die Atmosphäre treffend beschrieben: Bornierte Junker und  ein unaufgeklärtes, autoritätsgläubiges Bürgertum (S.344).

Mich stört vor allem, dass HvH trotz aller Emanzipation nirgends klipp und klar sagt, dass  der unbedingte Gehorsam, den das Militär verlangt, unmoralisch ist, denn letzten Endes ist jeder selbst für das, was er tut, verantwortlich. Und dann stört mich auch HvH's offenbar unbeeinträchtigte Treue zur protestantischen Ethik. Ich danke Gott, wer immer das sein mag, dass ich atheistisch aufgewachsen bin.

Ich hoffe, es freut Dich, dass ich das Buch aufmerksam gelesen habe, auch wenn mein Urteil Dir vielleicht nicht sympathisch ist. Dein Ernst

Auf den zweiten Band, in dem es hauptsächlich um die Pädagogik HvH geht, verzichtete Ernst dankend, weil ihm die moralische Positionierung HvH nicht klar und eindeutig genug war. Das war typisch für den Vater des Radikalen Konstruktivismus, seine radikale humanistische, pazifistische und antiautoritäre Positionierung ging ihm vor jede inhaltliche und thematische Auseinandersetzung. Das unterschied ihn positiv von manchen seiner „Jünger“.

Ein Besuch am Lingekopf

Es war ein herrlicher Herbsttag hier in den Vogesen, als wir auf dem Schlachtfeld am Lingekopf, einem der „Hotspots“ der kriegerischen Auseinandersetzungen des ersten Weltkriegs waren. Wir hatten auf dem Weg zum Isenheimer Altar im Museum Unterlinden in Colmar einen Zwischenstopp eingelegt. Wir philosophierten über die Quadratmetertotenzahl. In der Schlacht am Lingekopf fielen im Herbst 1915 auf einem Höhenzug von 300 Metern Länge für einen Geländegewinn von ca. 20 Metern ca. 30.000 Soldaten.

Der Lingekopf hinterlässt gerade an solchen sonnigen Herbsttagen immer einen äußerst zwiespältigen Eindruck. Der Sommer neigt sich dem Ende zu, zugleich man spürt aber noch die schwindende Kraft der tieferstehenden nachmittäglichen Herbstsonne. Die Empfindungen changieren zwischen Grauen, aufkeimender Todesangst, praller Lebenslust durchwirkt mit herbstlicher Melancholie. Das Sonnenlicht und die Herbstluft mit ihrem besonderen Geruch komponieren die Melancholie, die  Lebenslust wird von dem grandiosen Panoramaweitblick auf die blauen Bergketten der Vogesen hervorgerufen. Sie wirken wie der gezackte Rücken eines tiefschlafenden Sauriers in der Ferne. Man möchte schon immer gelebt haben und niemals sterben. Gleichzeitig zwingen die gut erhaltenen Schützengräben zur hypnotischen Identifikation mit den kämpfenden Soldaten und deren chronischem Bewusstsein bei gleicher Außenwelt, die nächste Minute kann die letzte sein.

Ich wies Ernst auf die subtilen Zeichen des subtilen Stolzes der heutigen Denkmalspfleger am Lingekopf über die respektable Quadratmetertotenzahl hin. Dieser subtile Stolz resultiert aus dem perversen Vergleich, es von der Quadratmetertötungspotenz und vom Grauensquotienten mit weit prominenterem Abschlachtengetümmel an „lauschigen“ Orten in Verdun, wie Höhe Toter Mann, Höhe 304 oder Wäldchen 125 „locker“ aufnehmen zu können. Ich las Ernst an Ort und Stelle aus den Werken seines Vornamensvetters Ernst Jünger vor. Dies war übrigens die bewusste Geburtsstunde der von mir entwickelten Methode des Historiodramas.

Ernst, der nur zwei Jahre nach der Schlacht am Lingekopf geboren wurde, bemerkte, dass wirklich Schlimme sei ja noch nicht mal die Quadratmetertotenzahl, sondern die furchtbare Tatsache, dass die finanziellen Aufwendungen zur Erzielung ähnlicher Quadratmetertotenzahlen in den vergangenen 78 Jahren seit dieser Schlacht ins Unermessliche gestiegen seien und die Kosten kriegerische Auseinandersetzungen zukünftig weiter steigen würden und was man doch Sinnvolles mit diesen astronomischen Beträgen gemacht haben könnte.

Der Radikale Konstruktivismus

Ich bin mir ziemlich sicher, der radikale Konstruktivismus von Ernst wird ein ähnlicher Kult-Klassiker wie Schillers Erziehungsästhetik. Die langfristige pragmatische Alltagswirkung wird allerdings ähnlich begrenzt sein. Emanzipatorische und aufklärerische Denkschulen werden in Deutschland bestenfalls gelobt und mit Preisen geehrt, eine alltagsrelevante und breite Rezeption finden sie leider nur kurzfristig. Gerade in heutigen Zeiten werden sie schneller missbraucht, denn verstanden oder gar mit der rigeroristischen Ethik von Ernst in die Praxis umgesetzt. Der Konstruktivismus wird schnell als relativierende, trivialisierende und komplexitätsreduzierende Begründung zur Durchsetzung und Rechtfertigung von eigenen egoistischen Karriereinteressen und Organisationsentwicklungsschweinereien ins Feld geführt. Allzu oft habe ich es in den letzten Jahren erleben dürfen, dass systemische „Organisationsentwicklungsmaßnahmen“ sich unter Berufung auf den radikalen Konstruktivismus und damit Ernst von ihrer ethischen Verankerung lösten. Das ging dann immer nach dem Motto, wenn doch alles eh nur subjektive Konstruktionen sind, dann kann ich doch bei dieser oder jener Organisationsentwicklungsmaßnahme bedenkenlos, philosophisch und systemisch „abgesichert“ das konstruieren, was die Geschäftsführung und der Profit diktieren. Von diesen billigen, um nicht zu sagen vulgären Ausreden wurde mir über die Jahre körperlich immer übler. Ernst wusste um diese gesellschaftlichen Entwicklungen im anagement und war darüber nicht gerade amused. Die Wirtschftskrise warf ein grelles Schlaglicht auf die Folgen dieses Tuns. Denn, das bemerkenswerteste an Ernst war für mich nicht (nur) sein Werk, sondern die Einheit von Person und Werk, das glaubwürdige Verwobenheit von Biographie, Theorie und Verhalten in der persönlichen Begegnung. Hohe mentale Flexibilität, weite perspektivische Polyokularität gepaart mit ideologiefreier politischer Liberalität bei ethisch eindeutiger Verortung ohne chamäleonhaftes moralisches Lavieren zeichneten Ernst aus (siehe oben).  Gegen eine Kommerzialisierung, die schnelle Mark, die wirtschaftliche Ausbeutung seiner Ideen durch ihn selbst war Ernst völlig immun. Er hat sich über die vielen späten Ehrungen gefreut, damit hatte es sich dann aber auch.

Ernst und Emotionen

2005 als ihn anlässlich der Verleihung des Batesonpreises fast die Tränen übermannten, sagte er:

"Ich habe mich in meinem Werk nie explizit mit Emotionen auseinandergesetzt, deshalb bin ich ihnen auch so hilflos ausgeliefert, wenn sie plötzlich kommen, und ich weiß nicht recht, wie ich damit umgehen soll."

Und:

"Der überraschende Geldbetrag dieses Preises erlaubt mir plötzlich ungeahnte Seitensprünge, und das ist in meinem fortgeschrittenen Alter sicher ein ungewöhnliches Privileg und ohne Zweifel verständlich."

Für mich war das Beste und Überzeugendste am Radikalen Konstruktivismus immer die Einheit von Biographie, Werk und Person seines Schöpfers. Seine beispielhafte Mischung aus lockerem und strengem Denken aus Theorie und Praxis waren mir immer Vorbild, Ansporn und unerreichtes Ziel zugleich.

Der Abdruck seiner Person und seiner Stimme werden mich weiter begleiten. Schiller kann ich nur noch lesen, Ernst durfte ich persönlich kennen lernen. Beide waren von ähnlichem Kaliber sie spielten zu verschiedenen Zeiten in der gleichen intellektuellen Liga.

Es macht mich froh, dass ich mich zu den entfernten Freunden dieses großen Denkers, Praktikers und Pädagogen zählen durfte. Seine lesenswerte Autobiographie betitelte Ernst als „Unverbindliche Erinnerungen“. Mir wird er in seiner radikal konsequenten Ethik, seinem strengen Pazifismus und im persönlichen Kontakt immer als äußerst verbindlich und liebenswürdig in Erinnerung bleiben. Ich würde gerne noch mal mit im Skifahren können. Ich vermisse ihn und die Korrespondenz mit ihm.

2013 wurde an der Universität Insbruck am Brenner Archiv das Ernst von Glasersfeld Archiv eröffnet.

 Dezember 2010