Verkommt Beratung und Coaching zum Blitzkrieg?
Über Beratung im Neoliberalismus
Ungekürzte Originalfassung aus managerSeminare, 158, Juni 2011, thesis im Sonderheft Coaching.
Der Teil 2 erscheint in Kürze unter dem Titel:
„Empört Euch!" vom Bildungsbürgertum zum Wutbürger
Rousseau hat nichts entdeckt,
aber er hat alles in Brand gesetzt.
Vor zehn Jahren fand die erste Staffel von Big Brother statt. 2010 bei der 5. Staffel von Germany`s next Topmodel gingen 23.000 Bewerbungen ein, die 7. Staffel von DSDS hatte im Schnitt 4,2 Millionen Zuschauer. Das entspricht einem Marktanteil von fast 33%.
Gemeinsamer Nenner dieser Straßenfeger ist, dass junge Menschen innerhalb einer Minute beurteilt werden, ob sie einen Recall in die nächste Show bekommen. Die letzten 15 Kandidaten treten dann in einer wochenlangen Show gegeneinander an und bekommen unter der johlenden Anteilnahme des Publikums h(d)erbe Rückmeldungen über ihre Leistungen, zu ihrem Verhalten und ihrer Person. Obwohl dies von Feuillitonisten in Grund und Boden verdammt wird, erfreuen sich diese Shows bei Kandidaten und Publikum größter Beliebtheit. Junge Leute stellen sich freiwillig in einer breiten medialen Öffentlichkeit diesen zweifelhaften Prozeduren.
Wie kommt das? Wie ist das zu erklären? Und was hat das mit Coaching zu tun?
Diese Medienspektakel und Straßenfeger sind ein Oberflächenphänomen eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels, der im neoliberalen Weltbild wurzelt: „Es soll jeder zeigen, was er kann. Er soll tüchtig und/oder schön sein, und wenn er etwas schafft / gut aussieht und sich bewähren kann, ist es gut und wenn nicht, ist er halt selber schuld, dumm gelaufen.“
Man mag damit einverstanden sein oder nicht (ich bin es nicht), aber so ist die (derzeitige) gesellschaftliche Realität. Ein Rhythmus wo jeder mit muss?
Parallel dazu hat sich im Zuge der Globalisierung ein Arbeitsmarkt entwickelt, auf dem Arbeitnehmer zunehmende Schwierigkeiten haben, ihre Gehaltsforderungen und gesetzlich verankerten (Arbeits-)Rechte zu wahren. Die synchrone Rückläufigkeit der Krankentage ist nicht Ausdruck einer besseren Volksgesundheit, sondern ein Symptom der Angst um den Arbeitsplatz.
Unter Heuschreckeninvestoren (in den Emerging Markets und der dritten Welt) gelten zwei grundsätzliche Regeln: „Die sozialen und ökologischen Folgen meiner Investitionen gehen mich nichts an. Ich habe für die kurzfristig maximale Rendite meiner Anleger zu sorgen, nach mir die Sintflut. Die größten Gewinne ergeben sich, wenn das Blut auf der Straße klebt.“
Die Filme „Let`s make money“ und „Der Geist des Geldes“ geben darüber beredte Auskunft. Der weltweite Konkurrenzkampf und die totale Entsolidarisierung ist auf allen Ebenen entfesselt.
Soweit (leider) nichts Neues.
In den Industrieländern führt das wiederum dazu, dass die Arbeitsverdichtung durch Rationalisierungswellen und Personalabbau so hoch ist, dass ich in meinen Beratungen und Coachings haufenweise sehr gute Leute sehe, die in einen ungebremsten Burn Out driften. Sie sehen keine Chance mehr, ihr ständig größer werdendes Arbeitspensum nach ihren bisherigen Soliditäts- und Qualitätsvorstellungen abzuarbeiten. Sie stehen unter einem permanenten Disstress, bei dem ihnen ihre Persönlichkeitsstruktur beginnt, im Weg zu stehen, weil Sie es nicht mehr schaffen, hurtig und flexibel genug auf die widersprüchlichen Arbeits(um)feld und –anforderungen zu reagieren. Häufig kommt dann ein Coach ins Spiel, der nun natürlich innerhalb kürzester Zeit (egal wie) Wunder wirken soll. Was er natürlich auch nicht kann.
Der Coach soll nun natürlich auch nicht an das Arbeitsumfeld, die Arbeitsorganisation, die Arbeitsanforderungen, die anderen Mitarbeiter oder gar den Vorgesetzten Hand anlegen, sondern sich auf den betroffenen Mitarbeiter fokussieren. Nicht sinnstiftende Entschleunigung, reflexive Besinnung oder komplementäre Beratung, sondern weitere Organisationsrationalisierung und personenbegrenzte Funktionseinpassung ist angesagt. Ursache und Verantwortung für diesen Irrsinn wird an die nächste Diskursebene überwiesen. Genau wie bei dem Disaster der Love Parade.
Soweit (leider) auch nichts Neues.
Bei den herrschenden Modellen zur Einflussnahme durch Coaching (heute häufig systemisch/konstruktivistischer Provenienz) zeigt sich ein janusköpfiges Bild: Auf der einen Seite die systemischen Modelle, die in ihrem theoretischen Grundverständnis aus den 60er Jahren stammen und von den kulturrelativistischen Schulen um Mead, Bateson, von Foerster und von Glasersfeld, Maturana u.a. geprägt sind. Diese ehrenwerten Theoretiker aus unterschiedlichen Fachwissenschaften wollten nach den bitteren Erfahrungen mit dem 2. Weltkrieg und dem Faschismus Theorien für eine bessere Welt schmieden.
Auf der anderen Seite pseudoreligiöse Mystifizierungsmodelle mit Organisationsaufstellung à la Hellinger, in denen für komplexe soziale Situationen nach zehn Minuten eine (w)irre Lösung aus Ursprungsordnungen und Demutsgebrabbel gefunden ist.
In der Praxis entwickelte sich daraus ein Flächenbrand aus sozialpädagogischer Folklore, die in den „Big Pfeif“ gipfelt und in einer konstruktivistischen bis phänomenologischen politikleeren Multikultisuppe dümpeln.
Diese Mythen sind:
- Kurzzeitberatungen sind immer wirksam, je kürzer desto gut
- es gibt für alle Probleme schnelle und effektive Lösungen
- alle Verhaltensweisen und Eigenschaften sind eigentlich Ressourcen
- der Berater/Coach ist neutral bzw. er konnotiert schlimmstenfalls
- alles positiv
Diese Modelle sind deshalb so erfolgreich, weil sie vom Berater und seinen Mandanten weiter nichts verlangen als „The same confusion on a quicker and higher level.“ Das Credo dieser glücksverheißenden Convenience Soßen wirkt als soziale Gleitcreme der neoliberalen Profitgier für den Mikro- und Mesokosmos und geht so: „Da alles Konstruktionen sind, kann ich auch denken, fühlen, tun und lassen, was ich will, Hauptsache es nützt meiner Karriere und die Kasse stimmt. Ich pflege meine temporären Allianzen und bin sonst bindungsfrei.“ Die Personalisierung obiger Motti: „Blood (Oil) on the Tracks“ (gerade heute ist der 70ste von Dylan).
Der Makrokosmos mit dem Leck im Golf von Mexiko, als Spiegelbild des Ozonlochs, oder die von Profitgier getriebene Katastrophe der Death Parade (desperate?), oder die Atomkatastrophe von Fukuschima wird mit der persönlichen Verantwortung als unverbunden gedacht, aber symbolisch durch emotionale Übersprungshandlungen mit Betroffenheits-Ethik (Moral-Zapping) abgewehrt (Grablichter, früher 17. Juni Kerzen und heute Public Griefing z. B. beim Suizid von Torwart Enke und hinterher geht's in der Liga weiter wie zuvor), ergänzt durch psychologisierendes Traumacoaching, aber keine ernstzunehmende politische Ursachenbekämpfung. Coching Modelle sehen das gar nicht vor oder kommen mit aufgedunsenem moralinsaurem Ethikermahnungsgesäusel auf den letzten zehn Buchseiten um die Ecke.
Die zu diesen Zeitläufen gehörende Debilisierung, höflich ausgedrückt simplifizierende Wohlfühlerzeugungsberatung gipfelt in „Fachkonvoluten“ zwischen „Beratung ohne Ratschläge“ oder „Ordnungen der Liebe“. Beides ist diametrale Desorientierung für Kontexte, in denen es um Macht und Profit(gier) geht, vor der Hintergrundstrahlung von Wirtschaftskrise, Währungskrise, Staatsverschuldung und Staatspleiten am Spätabend des fossilen Brennstoffzeitalters.
Was eigentlich gefragt wäre, wären multimodale, fachübergreifende Beratungsverfahren, die den Mandanten sowohl die Tiefendimensionen der (persönlichen Lebens- und Berufs-)Welt, als auch des inneren Kosmos seiner Person und wechselseitigen Bedingtheit sowie existentieller Abhängigkeit deuten. Also: lebensweltliche und tiefenstrukturell differenzierte Analysen, in Verbindung mit klaren Handlungsoptionen für Verhaltensmöglichkeiten, gründend in einem konsequentiellen Verantwortungsbewusstsein für die Schöpfung. Diese Beratungsmodelle funktionieren nicht wie ein lösungsorientierter Blitzkrieg. Sie gehen davon aus, dass es in dieser globalisierten Welt keine neutrale Position mehr gibt. (Spätestens) die eigenen Kinder werden die Gelackmeierten sein! Sie unterstellen weiter, nicht alle menschlichen Verhaltensweisen sind Ressourcen oder gar schon Tugenden, sondern man muss sich bewusst dafür entscheiden, und man wird sich dadurch saftige Nachteile einhandeln!
Das fordert von leitenden Angestellten mit Personalverantwortung (neben der Fachkompetenz) eine gute Übersicht der eigenen Lebens- und Innenwelt, gepaart mit elastischer Verhaltenskontrolle bei intaktem Gerechtigkeitssinn und Tugendprofil, einschließlich funktionierender Zivilcourage zur gerechten Mediation zwischen den Partikularinteressen, dem Firmeninteresse und dem Gemeinwohl. Das beginnt mit chronischer und rasanter Prüfung des eigenen Tuns. (Junge Menschen stellen sich zuweilen solchen Prozeduren, allerdings nur im Kopplungszwang mit medialer Verwurstung, s.o.) Das wäre die metakritische Hinterfragung und tiefenstrukturelle Reflexion im Coaching. Ein Berater hätte dafür entsprechende Modelle zu bevorraten. Zwischen ratloser (Blitzkriegs-)Beratung und Ordnungsmodellen von Hellinger bis Bueb müsste doch noch Platz für etwas differenzierten Common Sense sein.
Damit wäre nun bloß die Schlüsselqualifikationen für den Übermenschen definiert. Alltagsheilige sind eine ausgestorbene Spezies; Dominique Brunner (war übrigens auch ein Manager) musste auch mit seinem Leben bezahlen (Kann man sich Josef Ackermann mit solchem Mut vorstellen?). Aber, wir sollten das Feld weder kampflos den schnellbrütenden lösungswütigen Simplifizierern noch den psychopathischen Nieten in Nadelstreifen (z.B. Hayward, EX-CEO BP; Ex-Tepco Chef Shimizu mit Fukushima; Schaller Veranstalter Love Parade, Adolf Sauerland OB Duisburg und Schimanskies Kollegen in selbiger Stadt; die Plagiatoren Guttenberg, Koch-Merin u.v.a.m.; die dann auch noch versuchen wie Kaugummi an ihren Stühlen zu kleben) oder gar den soziopathischen Strukturen des Turbokapitalismus mit seiner durchgeknallten Finanzindustrie überlassen.
„The Dream is Over?“ „A Change is Gonna Come?“ „Live and Let Die?“: Damit mögen doch John Lennon, Sam Cooke, Otis Redding und 007 am Rand des Sirius die Ohren der Götter zu Stein erweichen. Ich bin allerdings mit Rilke und Sloterdijk der Auffassung: „Wir müssen unser(e) Leben(swelt) ändern, denn uns hilft kein Gott.“
Coaches könnten dazu ihren Beitrag leisten, wenn sie (auch) tiefenökologisch differenziert und politisch orientiert unterwegs sind. Wenn sie sich nicht (nur) verstehen als „Alles wird gut“ Patchwork-Persöhnlichkeitsverrunder und Karriereschnell(seifen)sieder oder dauerkonstruktivistische Kapitalerfüllungsgehilfen, die zum falschen Trost phänomenologische Zusammenhänge aufstellen, die frei erfunden sind.
Sie soll(t)en deshalb eher Sand denn Gleitgel im Schilde führen, ihr Mandant sei das Bruttonationalglück (BNG). Erziehung zum Müßiggang sei ihr wahres Metier, als Anleitung zum Widerstand gegen Ökonomismus und Karrierismus unter dem Diktat der Technokratie, also Anleitung zur Emanzipation und Zivilcourage. Das fängt mit deutlichen Rückmeldungen und einer superkritischen Bestandsaufnahme der eigenen Person an. Das wünschen und wollen Mandanten! Dadurch trägt der Berater große Verantwortung, denn er sollte unter diesen Rahmenrichtlinien kein dummes lösungsdesorientiertes Zeug schwafeln und keinen unpolitischen Stuss raten.
Für solche klare Rückmeldung scheinen Berater und ihre Fach- und Berufsverbände im Unterschied zu (einigen) ihren Mandanten (noch) nicht besonders aufgeschlossen zu sein. Andere Berufsgruppen wie z. B. Ärzte, Pfarrer, Juristen, Polizisten, (seriöse) Finanzberater (Gibt`s die noch, und wie erkennt man sie?) u.v.a.m. haben zuweilen auch sehr herbe, bis zu tod- oder bankrotverkündende Informationen und Nachrichten mitzuteilen, die man beim besten Willen nicht mehr positiv konnotieren kann oder gar neutral verabreichen kann. Das gehört zum professionellen Tun. Das bringt umsichtige und schwere Verantwortung mit sich.
Manche Berater (und einige leitende Angestellte auch) wollen lieber ihre konstruktivistischen Mythen retten und ihren Mandanten häufig keinen reinen Wein einschenken (bewusste Täuschung und Betrug, was es ja auch zunehmend gibt, lassen wir hier mal außen vor), weil sie fürchten, der könnte zu sauer sein und das würden die Mandanten nicht hören wollen und würden sie dann vielleicht feuern. Diesen Vorgang bezeichnet man psychologisch als Projektion. Früher wollte man zuweilen dicke Bretter bohren. Heute will man, so kommt es mir vor, flink und unbeschmutzt durch den rigipsverdübelten Ramsch.
Die große Mara Selvini-Palazzoli und ihr Sohn Matteo haben es als erste auf den Punkt gebracht. Schon 1990 schrieben sie den Konstruktivisten des Auer Verlages (erfolglos) diese Mahnung ins Stammbuch:
„Also, wir haben eine große Abneigung gegen Dinge, die erfunden werden sollen. Wir haben ein empfindliches Misstrauen gegen Geschichtenerzählerei, und wenn wir dann hören, dass manche Therapeuten meinen, dass man Geschichten erzählen und erfinden muss. Wir haben da einen empfindlichen Spürsinn, unser Magen rebelliert bei einer solchen Sache. Auch Carl Auer gegenüber haben wir das gleiche Gefühl, und deswegen kennen wir ihn nicht. ...
Es ist unser Ziel, Tatsachen aufzudecken und herauszufinden, was die Eltern mehr oder weniger bewusst zu verbergen suchen. ... Wir sind zu sehr daran interessiert, die in den diversen Familien wiederkehrenden Phänomene aufzudecken. Deswegen können wir sie nicht erfinden, wir wollen sie wirklich entdecken, da wir sonst nicht in der Lage sind, Therapie zu machen. Sie nehmen stattdessen an, der Therapeut könnte da frei erfinden. So ist das.
Carl Auer eine suspekte Person? Nein, meiner Meinung nach repräsentiert er eine bestimmte Richtung des Denkens, die ich nicht mehr teile. Er repräsentiert den radikalen Konstruktivismus.
... der für sich genommen eine sehr positive Sache ist: Es ist die Pfuscherei, welche einige Familientherapeuten daraus gemacht haben, die so schädlich ist. Sie haben ihn häufig für therapeutischen Relativismus und Nihilismus benutzt.
... und um sich vor der therapeutischen Verantwortung zu befreien.“
Damit wurde der radikale Konstruktivismus (entgegen den Intentionen seiner ehrenwerter Begründer, wie Heinz von Foerster oder Ernst von Glasersfeld, (siehe unten den Nachruf zu EvG) zu einer falsch verstandenen Erweiterung des „Anything goes“ von Paul Feyerabend umgemünzt. Feyerabend hatte mit seinem Motto natürlich Emanzipation im Schilde geführt. Er widersprach dem Methodenzwang und meinte stattdessen „Erkenntnis für freie Menschen“, um damit andere Wirklichkeitszusammenhänge und Lebensweltenwürfe „erfinden" können, als den bis dahin häufig geltenden konservativen Mist.
Doch plötzlich war alles ganz anders, Helmut Kohls geistig moralische Wende fand in der Realität statt, alle neuen Werte wurden flink umgedeutet („Umdeutung“ oder "reframing", auch so ein mystifizierendes Schwachsinnskonzept aus der Ericksonschen Hypnotherapie) oder konservativ reanimiert. Plötzlich hieß es: „Wer noch was entdecken will und sich nichts zu erfinden traut, ist ein mutloser und erkenntnistheoretischer Depp von vorgestern.“
Es wurde unter Berufung auf den sechsten Kondratjew (nach dem Agrarzeitalter und der Industrialisierung und dem Energiezeitalter) das Informationszeitalter erfunden. Kondratjew selbst wurde zur Belohnung für seine emanzipatorischen Ideen mal kurzerhand verurteilt und dann erschossen (Der „Prozess" gegen Chodorkowski lässt grüssen).
Aber flugs ging es sogar noch wesentlich weiter in diesem postmodernen Tollhaus. Wer da nicht fein mitspielte, war plötzlich nicht mehr nur ein Depp, soll heißen eine noch fast liebeswerte Mischung aus drollig, harmlos, unbeholfen und dämlich, sondern auch ein gefährlicher Feind aller „progressiven-radikalkonstruktivistischen und rechtgläubigen“ Tendenzen.
Denn, wer bei seinen Mandanten und in deren Innenwelt und Beziehungen nicht nur noch etwas erfinden, sondern auch noch etwas entdecken will, ist nicht nur von hinter gestern, sondern er zwingt seinen Patienten oder Mandanten auch seine imperialistischen, kolonialistischen und negativistischen Konstruktionen als Realität auf, denunziert(e) man.
Das einfältige Strickmuster war stets dasselbe, es wurde nicht mehr ordentlich gelesen, nicht mehr sauber recherchiert oder fair diskutiert, sondern alles nur zu dem empistemologischen Häppchentellern exekutiert, die einem gerade zum Kohlemachen in den Kram passte und bloß nicht schwer im Magen lag. Ein Silbergäbelchen reicht zum dinieren, wo das Silber herkommt, wo es unter welchen Bedingungen, von welchen Heloten aus der Berg geholt, interessiert kein Schwein.
Ein anderer postmoderner Hokuspokus Zauberfetisch war die „Anwendung“ der Pareto Regel. Die „leicht beleseneren“ unter den „Neuen Paretorianern“ ließen sich von Giegerenzers „Bauchentscheidungen“ und „Good Feelings“ soufflieren.
Jeder der schon durch seine mäßigen Noten in Mathe und Physik kundgetan hatte, dass er nicht in der Lage sei, auch nur eine einzige Formel von Kondratjew oder Pareteo nachzuvollziehen, fühlte sich qua sozialpsychologischer Kompetenz berufen, seine emotionale Intelligenz und Gedankentief dadurch unter Beweis zu stellen, dass er Pareto zum Zeugen anrief. Eine ordentliche (und damit zeitraubende) Recherche und Analyse lohne sich nur noch für Zwangsneurotiker, denn wie schon von Pareto mathematisch bewiesen sei, komme man ja in 20 % der Zeit zu 80% Information. Alles andere ist sinnlose „Zeitverschwendung“, die vom Wesentlichen ablenkt. Die Autobiographie gleichen Namens von Paul Feyerabend wart natürlich (meistens) nicht gelesen, soweit man Feyerabend überhaupt kannte.
Der mediale Zwang sich kurz zu fassen und in stenographischen Schlagworten zu formulieren (der auch in der Veröffentlichung dieses Artikelchens in den managerSeminaren sein Unwesen führte) tat sein Übriges.
Ich frage mich nur, was war das Wesentliche für diese „Geistesriesen“?
Der radikale Konstruktivismus wurde zur pseudoprogressiven vorauseilenden Entschuldigungsmaschine, die gleichzeitig im Einklang mit dem neuen erfindungsreichen Zeitgeist stand. Man hatte endlich die geniale philosophische Blaupause gefunden, um scheinbar mitmischen zu können, sich seine Scheibe vom reich gedeckten neoliberalen Buffet absäbeln zu können bis hin zu vorsätzlichem Betrug, Durchstechereien, Bilanzfälschung, Veruntreuung, Konkursverschleppung und bewusster Emission von Schrottpapieren.
Die fundierte und frühe Kritik des radikalen Konstruktivismus von Nüse et al. (1991) oder die Sokal Affäre wurde erst gar nicht zur Kenntnis genommen. Man biegt und dreht sich die Wirklichkeit bedarfsgerecht in konstruktivistischen autopoetisch geschlossenen Zitierkartellen zu einem mentalen Analogkäse zusammen. Non Respondismus, also Nicht-Reagieren, Nicht-Antworten, Verschweigen und Vertuschen als erfolgreiche pseudowissenschaftliche Strategie, denn von der Kritik spricht heute niemand mehr, auf den radikalen Vulgärkonstruktivismus beziehen sich nach wie vor viele (Heinz und Ernst würden sich im Grabe umdrehen).
Schlussendlich wurde (und wird) diesen küchenphilosophischen Dummdeutschschwätzern (Henscheid, 1985) durch einige profilgeile und hirnlose Neurowissenschaftler assistiert. Denn diese Hirnies riefen auch noch unter dem Deckmäntelchen der „Wissenschaft“ schon eifrig nach einer Revision des Strafrechts. Denn da das Gehirn ja alles konstruiert, kann auch keine Person mehr selbstverantwortlich handeln und sich autonom steuern.
Deshalb möchte möchte ich am Ende noch einmal aus der Weisheit des Rock’n’roll zitieren, „Do what you like“ hieß es zwar auch im Text der ehemaligen Supergruppe Blind Faith (Clapton, Winwood, Baker, Grech). Es war die Hymne des Primärprozesses à la 68, aber in dem Song heisst es eben auch:
„Do right, use your head, everybody must be fed
Get to gether, break your head, yes together, that's what I said,
Open your eyes, realize you’re not dead
Take look at an open book, let it cook ... „
Hier trifft sich die Weit- und Weltsicht von Blind Faith mit den Imperativen von Stéphane Hessel.
„Empört Euch!“, Engagiert, Euch! Tut Euch zusammen!“
Wie das alles mit zeitgemässer Beratung zusammenhängt, dazu demnächst mehr im zweiten Teil.
Quellen:
Bueb, Bernhard: Lob der Disziplin. Eine Streitschrift. Berlin: Ullstein 2008.
Dischner, Giesela: Lexikon des Müßiggangs. Bielefeld, Basel: Sirius 2009.
Dixon, Frank: Gross national happiness: measuring what matters. In: Reflections 7. 2006, 3, S. 15-24.
Feyerabend, Paul: Erkenntnis für freie Menschen. Frankfurt: Suhrkamp 1980.
Feyerabend, Paul: Wider den Methodenzwang. Frankfurt: Suhrkamp 1986.
Feyerabend, Paul: Zeitverschwendung. Frankfurt: Suhrkamp 1995.
Giegerenzer, Gerd: Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. München: Goldmann 2008.
Hellinger, Bert: Ordnungen der Liebe. München: Droemer-Knaur 2001.
Henscheid, Eckhard: Dummdeutsch. Frankfurt: Reclam 1993.
Niess, Yorick: Der Geist des Geldes. Polar Film: 2007, DVD.
Nüse, Rolf; Groeben, Norbert; Freitag, Burkhard; Schreier Margit: Die Erfindung/en des Radikalen Konstruktivismus. Kritische Gegenargumente aus psychologischer Sicht. Weinheim: DSV 1991.
Solterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern. Frankfurt: Suhrkamp 2009.
Raddatz, Sonja: Beratung ohne Ratschlag. Systemisches Coaching für Führungskräfte und BeraterInnen. Wien: VSM 2000.
Selvini Palazzoli, Mara u. Mattheo: Carl Auer? Kennen wir nicht und wollen wir nicht kennen. In: Weber & Simon Carl Auer Geist or Ghost. Heidelberg: Carl Auer 1990.
Wagenhofer, Erwin: Let`s Make Money, delphi-film.de: 2008, DVD.
Daten zu: Big Brother, DSDS, GnTM, Wikipedia.
Mai 2011